Weser-Kurier vom 28.12.2004

Aus Ev. Kirchengemeinde Grambke
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Weser-Kurier vom 28.12.04

"Es formt sich ein neues Leben . . ."

Werderland. "Ein Stück altes Bremen nach dem anderen musste im Laufe der Zeit neuem Leben Platz machen. Jetzt ist es das stille Mittelsbüren, das einem großen Industriewerk Raum zur Entfaltung an der Weser geben muss. Es formt sich ein neues Leben, und mit ihm wachsen neue große Aufgaben. Das mögen alle Mittelsbürener bedenken, die jetzt ihre vertraute engere Heimat zugunsten der größeren austauschen müssen."

Dieses Grußwort des Präsidenten des Senats, Wilhelm Kaisen, stellte Rudolf Stein seinem 1957 erschienenen Buch "Das alte Büren" voran. Es ist die Bestandsaufnahme der Ansiedlung im Werderland, eine Bestandsaufnahme auch des Dorfes Mittelsbüren, dessen Verschwinden damals seit drei Jahren schon beschlossene Sache war. Vier Zeitzeugen erinnern sich an die Vorgänge vor genau 50 Jahren.

Zuerst Heinz Heumann, Jahrgang 1940, ehemaliger Ausbilder bei Klöckner, später Stahlwerke Bremen, und Herbert Erhard, Jahrgang 1926, ehemaliger Lehrer. Beide erzählen vom Ende eines Dorfes, das 1391 erstmals urkundlich genannt wird: Mittelsbüren. September 1954 ist’s quasi beschlossene Sache: Die Klöckner-Stahlwerke wollen, sollen und müssen sich über ihren Grambker Standort hinaus erweitern. Das würde, angesichts der sich abzeichnenden Borgward-Krise, willkommene Arbeitsplätze für Bremen schaffen (1965 sind es 5 500). Die Alternative: Klöckner geht nach Holland.

Der Senat handelt. Und verhandelt. Mit 142 Eigentümern von insgesamt 748 Hektar Land in der Mittelsbürener Feldmark. Bietet 1 bis 1,50 Mark pro Quadratmeter anfänglich - die Forderung der Eigentümer belaufen sich dagegen auf 5 Mark - und billigt schließlich da, wo man sich nicht auf den Kompromiss von 3 Mark einigt, einem Schiedsgericht folgend, 3,40 Mark zu. Gewichtiges Verhandlungsargument seitens des Senats: Enteignung.

Nicht zulässig, kontert die Gegenseite. Hier zieht das Gemeinwohlprinzip nicht: Die Bremische Landesverfassung lässt es nicht zu, dass der Staat seine Rechtsmittel einsetzt, um einen privaten Dritten ein enteignetes Grundstück zu Verfügung zu stellen. Eine Enteignung also einzig im Interesse eines privatwirtschaftlichen Unternehmens. Wenn auch mit mittelbaren gemeinnützigen Folgen. Aber, eben, nur mittelbaren. Die Anwälte der Grundbesitzer klagen. Allerdings immer mit der Maßgabe, diese Klage bei einvernehmlichem Verhandlungsergebnis wieder zurückzuziehen.

Schließlich hat man sich geeinigt. "Die drei, die das durchgeboxt haben", erzählen Heinz Heumann und Herbert Erhard, "sind kurz danach gestorben". Die Verhandlungsführer der Dorfgemeinschaft: Albert Haake, Großbauer mit 135 Morgen Land "Vorsteher", Respektsperson ("De grote Albert") und Sprecher des Dorfes und Dr. Duwe , Ziegeleibesitzer in Oslebshausen, sowie Henning Köhler, Bauer aus Grambke. "Nach ein, zwei Jahren gestorben . . . Oder Herzinfarkt".

Heumann und Erhard haben beide in Mittelsbüren gewohnt. Erhard ist erst ein Jahr vor dem Erweiterungsplan dort Lehrer geworden. "Wir haben noch Heinz’ Konfirmation gefeiert. Und dann mussten wir raus". Das heißt, der Lehrer ist noch geblieben. Und hat sich auch weiterhin noch eingemischt. Wegen des freien Zuganges zu dem verbliebenen Rest der Siedlung. Aber das ist eine andere Geschichte.

Vorerst galt es den Kampf um Mittelsbüren auszufechten. Ganz vorne weg - in der Politik - ein Kommunist: Meyerbuhr aus Gröpelingen, "der einen Juwelierladen besaß". Das letzte Aufbäumen der KPD kurz vor dem Verbot im Dezember 1954: "Die wollen hier keine Bleche für Dosen herstellen, sondern Stahl für Bundeswehrpanzer". Auch einer von der FDP war dagegen. Klare Linie dagegen bei SPD - natürlich - und CDU, DP (Deutsche Partei) sowie der Mehrheit der FDP. Wobei Bürgermeister und erklärter Kleinbauer Kaisen im Genossen Wolters seinen Mann für’s Grobe findet: "Klöckner geht nicht nach Holland!"

Dafür aber eine Eisenbahn genau durch Onkels Haus, wie Herbert Erhard sich an das erinnert, das Bewohnerin Helga Lange später einmal erzählte. Und dass ihr Onkel den Bebauungs-Plan gesehen hat: Eine Eisenbahn zu den Hochöfen. Genau durchs Haus.

Bei dem Mittelsbürener Teil aber ist es beim Bebauungsplans geblieben. Denn schon 1965 musste der WESER-KURIER melden, dass es "weniger Arbeit für 1 700 Beschäftigte bei Klöckner" gibt: "Hütte Bremen passt sich dem Rückgang auf dem Stahlmarkt an." Deshalb ist "die Ansiedlung bis heute nicht ganz vollzogen worden".

Auch wenn Bürgermeister Kaisen 1966 noch einen neuen Hochofen anstach, "das Gelände ist nicht genutzt", erzählt Herbert Erhard. "Heute ist das nur noch Wildgebiet". Den Bahnkörper zu den Hochöfen gibt es zwar. Aber keine Hochöfen. Vor ein paar Jahren hat man noch die alten Apfelbäume sehen können. Fazit: Mittelsbüren hätte stehen bleiben können. Natürlich nicht mehr als landwirtschaftlich funktionierendes Gemeinwesen. Die Feldmark war ja weg.

Und der Abschied vom Dorf, die Räumung, die Versteigerung 1957 und schließlich der Abriss? Oder das Umsetzen einzelner Gebäude - eines hin zum Focke-Museum in Bremen? Der junge Lehrling Heinz, nun ja, der lebt damals zwar auf dem Hof seiner Großeltern, ist aber auch schon bei den Stahlwerken beschäftigt. Natürlich ist es ein komisches Gefühl, zu sehen, wie der zum Garten des großelterlichen Hauses gehörige Vogelbauer (Büren: Bau, Vogelbauer) über- und eingeschwemmt wird. Aber schließlich beugt er sich dem "neuen Leben".

Nicht ganz so einfach war es damals aber für eine andere Zeitzeugin, für Margarethe Jachens, geborene Wischhusen. 1924 in Mittelsbüren zur Welt gekommen und dort aufgewachsen, lebt sie heute mit ihrem Mann Gerhard in Platjenwerbe. Sie erinnert sich: "Das Ganze ist mir an die Seele gegangen, an den Lebensnerv. Das war nicht das Schönste." Sie weiß heute, was Flüchtling sein bedeutet.

Seit 1912 betreiben ihre Eltern den Hof Mittelsbüren 32. Von Jugend auf ist Margarethe in den landwirtschaftlichen Betrieb eingebunden, soll später den Hof übernehmen. 1945 stirbt ihr Vater und die folgenden Jahre schlägt sie sich mit ihrer Mutter mehr schlecht als recht durch. Harte Jahre sind es. Bis sie 1950 heiratet: Zusammen mit ihrem Mann "kam der Aufschwung". - "Wir kamen langsam wieder in Gang", dämpft Gerhard Jachens - nicht allein hier seiner Frau mit nachsichtiger Liebenswürdigkeit widersprechend - die euphorische Erinnerung.

Überhaupt sieht er die Vorgänge von 1954 in einem nüchterneren Licht: Der Grund wäre ja sowieso weggegangen. Landwirtschaft in Deutschland - damals wie heute - das war und ist ein hartes Brot. "War vielleicht besser so, als Stück für Stück zu verkaufen. Das geringere Übel, über’s Ganze besehen". Dagegen wieder seine Frau: "Heimat in Geld aufwerten. Das ist so übel!" Nein, Margarethe Jachens kann sich im Grunde bis heute nicht mit dem Ende von Mittelsbüren abfinden.

Aber trotzdem: Häuserkampf und Protest, das gibt es damals halt nicht. Und so beugt man sich dem Votum vom "groten Albert", der sie hin und wieder auch "in die Zange" nimmt: Wenn ihr hier nicht mitmacht, dann bekommt ihr gar nichts . . . Und mitgemacht haben sie dann auch. Mit den anderen. Von denen einige scheinbar gar nicht so ungern abgefunden werden wollen. "Vielleicht waren es zwei, die wirtschaftlich nicht so gut zurecht kamen", sagt sie.

Wieder sieht es ihr Mann etwas realistischer: Es werden wohl einige mehr gewesen sein. Vor allem die Bewohner zur Miete. Schließlich gab es ja eine gute Entschädigung. . . "Nein", sagt sie. "Die haben darunter gelitten". Gelitten wie sie selbst, die sich heute so recht nicht mehr erinnern mag, ob sie damals überhaupt bei der Versteigerung ihres Hauses dabei war. Er jedenfalls war. Und hat sich diesen Teil des Laufs der Dinge mit angeschaut. Aber nicht mitgeboten . . .

Mittelsbüren mit seinen gut 30 Häusern und Höfen also verschwunden. Der Zaun, der das Areal hinter der Moorlosenkirche heute absperrt, hat den Charme der ehemals innerdeutschen Grenze. Fehlen eigentlich nur noch Stacheldraht und Wachturm. Alles umsonst gewesen? Das vergossene Schweiß und Blut und die Tränen, auch der holländischen Kolonisten, die im 12. Jahrhundert mitgeholfen haben, das Land urbar zu machen? Auch hier möchte sich Gerhard Jachens der moll-Stimmung nicht anschließen. Es ist schließlich nicht das Ende der Zeit, sagt er. Irgendwann werden sich all die Mühen auszahlen. Irgendwann.